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Natur vor der Haustür

10/2021 Lebensraum Waldrand

Der Waldrand ist der Übergang von geschlossenem Wald zu angrenzenden, offenen Flächen. Waldränder sind im Grunde nicht natürlich, sondern ein durch die Erschließung von Kultur- und Siedlungsflächen entstandenes Landschaftselement. In einem sich selbst überlassenen Waldrand würde der Wald sich stets ausbreiten und in das Offenland drängen. In diesem ständigen Ringen zwischen Natur und Kultur hat sich nicht nur ein landschaftlich belebendes Element gebildet, sondern es ist ein für Flora und Fauna ganz besonders wertvoller Lebensraum entstanden. Er bildet mit Hecken und Feldgehölzen ein komplexes Biotopverbundsystem von großer Bedeutung für die Fauna.

Jeder Waldrand ist einzigartig. Form, Bewuchs, Tiefe und Artenvielfalt variieren oft schon in kurzen Abständen. Allen gleich ist, dass hier ein hoher Anteil des Sonnenlichts, welches im Wald durch die Baumkronen zu einem sehr großen Teil absorbiert wird, bis zum Boden dringt. Ein idealer Waldrand besteht aus drei Bereichen, die oft fließend ineinander übergehen und eine Tiefe von bis zu 30 Metern erreichen können. Der erste Bereich, von der offenen Fläche betrachtet, ist der sogenannte Krautsaum. Er besteht überwiegend aus niedrig wachsenden Pflanzen wie Gräsern und einer Vielfalt von Nektar spendenden Wiesenblumen. Darunter befindet sich auch die Brennnessel, die zahlreichen Insekten als Futterpflanze dient. Die Raupen vieler Schmetterlingsarten leben von ihr. Der zweite Bereich ist der sogenannte Strauchgürtel. Er ist gekennzeichnet durch Jungbäume und Sträucher, zum Teil mit Beeren oder dornenbewachsen. Typische Vertreter sind zum Beispiel die Hasel, Brombeere und Himbeere, Hundsrose, Schlehe, Schwarzer Holunder, Hopfen, Traubenkirsche und Hartriegel. Viele der Früchte sind essbar, aber Vorsicht, auch für den Menschen giftige Pflanzen sind mit dabei. Der dritte Bereich ist der Waldmantel. Er besteht bereits aus Bäumen, deren Kronen bis in den unteren Bereich gut ausgebildet sind. Lichtliebende Baumarten wie Eiche und Ulme siedeln sich hier gerne an. Auch wilde Obstbäume, wie Wildkirschen und Wildäpfel, sind zu finden oder Salweiden, die im Frühjahr für Insekten die erste große Futterquelle sind.

Wegen der Schutzfunktion durch den dichten Bewuchs und den guten Lichtverhältnissen bevorzugen viele Tiere den Waldrand als Lebensraum gegenüber dem Waldinneren. Viele Insekten und Insektenarten haben hier günstige Existenzmöglichkeiten. Wildbienen nisten in Erdhöhlen, totem Holz oder markhaltigen Pflanzenstengeln. Käfer nutzen jedes verwendbare Schlupfloch. Ameisen bauen ihre Burgen an sonnigen Stellen. Spinnen machen Jagd auf andere Insekten. Schmetterlinge und deren Raupen finden Nahrung und geschützte Stellen zur Verpuppung. Viele Vögel nisten am Waldrand und nutzen dieses überreiche Nahrungsangebot am Waldsaum. Zu den selteneren Vögeln, die hier anzutreffen sind, gehören der Neuntöter oder der Gartenrotschwanz. In der Dämmerung und nachts jagen Fledermäuse im Luftraum nach Nahrung. Auch Säugetiere, wie Igel, Fuchs, Dachs, Hasen, Mäuse und Siebenschläfer, finden hier Schutz und ausreichend Nahrung. Der Waldrand bietet zahlreichen Nützlingen für Wald- und Landwirtschaftsflächen Unterschlupf. Unter den Insekten und Vögeln finden sich natürliche Gegenspieler von Schadinsekten wie Frostspanner oder Maiszünsler.

Ein idealer Waldrand bietet von der Blüte der Weide im Frühjahr bis hin zur Blüte der Brombeere im Spätsommer mit Pollen und Nektar ein reiches Nahrungsangebot für Insekten. Diese sind wiederum Nahrungsquelle für höhere Tierarten, so dass eine komplette Nahrungskette besteht. Dadurch findet sich hier eine Artenvielfalt, die woanders kaum noch anzutreffen ist. In einem intakten Lebensraum Waldrand stehen sich Jäger und Beute im Gleichgewicht gegenüber.

Ein sanft ansteigender Waldrand bietet außerdem eine Schutzfunktion gegenüber extremem Wetter. Bei Stürmen wird ein Teil der Luftströmung langsam nach oben abgeleitet, ein anderer Teil kann in den Bestand einströmen. Starke Turbulenzen, die Windbruch verursachen können, werden so verringert. Der vertikale Bewuchs schützt vor Austrocknung durch Wind und Sonneneinstrahlung.

Am Waldrand gibt es immer wieder etwas zu entdecken. Was verändert sich im Laufe des Jahres? Wie entwickeln sich die Pflanzen, welche treten zu welcher Jahreszeit hervor oder zurück? Gibt es Tiere oder Spuren von Tieren zu sehen oder zu hören? Es lohnt sich, bewusst hinzuschauen.

Rainer Warmke